Bereits Mitte 2020 waren einige Fahrradläden in Deutschland leergekauft. Wie ist die Situation zum Saisonstart im Frühjahr? Dieser Frage ging der pressedienst-fahrrad bei einer digitalen Gesprächsrunde nach und erläutert die Hintergründe.
Das Frühjahr steht vor der Tür, die klassische Fahrradsaison beginnt. Die Vorzeichen stehen gut, dass sich der Fahrradmarkt auch in diesem Jahr einer hohen Nachfrage erfreuen wird. „Um die Freizeit und den Urlaub im Land zu verbringen, bietet sich das Fahrrad an. Auch für das Pendeln ist es in der Pandemiezeit eine Alternative zu öffentlichen Verkehrsmitteln. Die Entwicklung sehen wir in steigenden Verkaufszahlen“, blickt Dr. Thomas Leicht, Bereichsleiter E‑Bike bei Brose, optimistisch ins Jahr 2021. Wer sich spontan ein neues Fahrrad oder E‑Bike kaufen möchte, kann aber schnell enttäuscht werden: Das Wunschrad ist oftmals weder im Handel noch online erhältlich, Lieferzeiten bis zu sechs Monate keine Seltenheit. Die Gründe dafür sind vielschichtig.
Die weltweite Nachfrage
Das Thema Radfahren boomt – und zwar weltweit. Das bringt die Produktionsbetriebe an ihre Grenzen. Ein Fahrrad besteht bekanntlich aus unterschiedlichen Komponenten von verschiedenen Zulieferern.
Viele Teile werden weltweit nur von wenigen Herstellern produziert. Durch die gestiegene Nachfrage können die Betriebe manche Bestellungen nicht mehr zeitgenau abarbeiten. Auf manche Komponenten
gibt es mittlerweile Wartezeiten von rund einem Jahr, auch weil Rohstoffe fehlen. Doch Komponenten wie Sattel, Bremsscheiben und Schaltung sind elementar für den Fahrbetrieb. Ohne sie läuft
nichts. Branchenintern kommt hinzu, dass Themen wie Planung und Forecasting im Fahrradbereich lange Jahre nicht salonfähig waren. Man lebte von einer Saison zur nächsten.
Diese Einstellung scheint sich jetzt immer mehr zu ändern. „Wir haben aus dem letzten Jahr unheimlich viel gelernt und sind viel früher in Planung und Produktion gegangen. Die Warenverfügbarkeit ist das A und O. Dennoch gibt es Fragezeichen, wie es weitergeht“, bestätigt Markus Krill, Geschäftsführer beim Anhängerspezialisten Croozer. „Wir beschäftigen uns schon heute teilweise mit der Planung für 2023. Das ist eigentlich absurd“, pflichtet Dennis Schömburg bei. Er ist Geschäftsführer des Markenimporteurs Messingschlager, der Fahrradteile von Zulieferern aus der ganzen Welt in Europa anbietet. Bereits seit längerem wird in der Branche zusätzlich daran gearbeitet, den „klassischen“ Saisonrhythmus zu entzerren und den Kauf von Neuheiten ganzjährig zu ermöglichen. So präsentieren einige Hersteller wie etwa Cannondale ihre neuen Räder im Laufe des Jahres und nicht ausschließlich im Frühjahr oder Herbst.
Die aktuelle Situation in Asien
Der asiatische Raum ist für die Fahrradproduktion immer einen Blick wert. Hier wird ein Großteil der Teile und Rahmen gefertigt. Corona ist auch dort ein bestimmendes Thema, aber die Zahlen sind
vergleichsweise geringer als in der EU. „Man geht von Seiten der Regierung strikter gegen das Virus vor und riegelt betroffene Gebiete schneller ab. Auch in den Fabriken werden erheblich höhere
Anstrengungen unternommen als in der EU. So bekommt man das Virus schneller in den Griff“, berichtet Albrecht von Dewitz, der Inhaber der Produktionsstätte Vaude Vietnam. Der Gründer und ehemalige Geschäftsführer des Outdoor-Ausstatters Vaude
Sport lässt in seiner Fabrik in Vietnam beispielsweise zweimal am Tag bei den Mitarbeiter:innen Fieber messen, mögliche Verdachtsfälle werden sofort isoliert und näher untersucht.
„Wir hatten bei uns bislang noch keinen Fall“, berichtet von Dewitz. Auch wenn er aufgrund von Reisebeschränkungen aktuell in Deutschland ist, beobachtet er die aktuelle Situation in Fernost genau. In Asien steht bald das chinesische Neujahrsfest an, was für viele chinesische Arbeiter:innen der Jahresurlaub ist und dadurch die einzige Möglichkeit, ihre Familien zu sehen. Die Situation ist deshalb gerade in China äußerst angespannt. „Die Chines:innen wollen zu ihren Familien reisen, aber der Fernverkehr zwischen den Ballungsräumen soll dicht gemacht werden“, erklärt von Dewitz. Die Folge: Mitarbeiter:innen würden aktuell kündigen oder ihren Arbeitsplatz einfach verlassen. „Viele Unternehmen können schon jetzt nicht mehr produzieren“, sagt von Dewitz. Diese Situation bestätigt Dennis Schömburg. Hinzu kommt, dass durch die Reisetätigkeiten das Corona-Virus weiterverbreitet werden kann und ein neuer Lockdown droht. „Der Termin ist schon immer problematisch, aber dieses Jahr ist die Glaskugel noch etwas mehr beschlagen“, so Schömburg.
Logistik und Transport
Das chinesische Neujahrsfest bedeutet auch, dass die Logistik in China für eine Woche ruht. Dabei ist die Transportkette von Asien nach Europa seit letztem Frühjahr stark belastet und der
Warenverkehr immer noch eingeschränkt. Die Fahrradbranche ist hier nur eine von vielen, die ihre Produkte aus Asien bezieht und mit längeren Lieferzeiten zu kämpfen hat. Seit November sollen sich
bereits die Logistiker in den Häfen um die wenigen freien Containerplätze auf den Schiffen streiten. Oftmals wird zugesagte Ware gar nicht ausgeliefert – oder nur zu gestiegenen Transportkosten.
„Unser Logistiker hat am Tag der Lieferung gesagt: Eure Ware ist leider im Hafen liegen geblieben, da wir nicht genug Container haben. Wenn sie im nächsten Monat mitgehen soll, kostet es das
3,5‑Fache, wenn ihr sie sicher wollt, das Vierfache“, berichtet Alexander Kraft, Pressesprecher beim Liegeradhersteller HP Velotechnik, an einem konkreten Beispiel die angespannte Lage.
Steigende Preise
Fahrradhersteller suche deshalb andere Lösungen. „Um lieferfähig zu bleiben, schauen wir nach Ersatzkomponenten, wenn wir Teile nicht bekommen“, berichtet Michaela Fiege, Einkaufsleiterin beim
Kinderspezialisten Puky. Das hat zur Folge, dass sich die Ausstattung des Wunschrades kurzfristig ändern kann, weil
andere Komponenten verbaut sind als im Katalog angegeben. Die Kataloge werden Monate im Voraus gedruckt und können nicht der aktuellen Lage angepasst werden. Außerdem werden die Ersatzkomponenten
meist in Europa gefertigt und sind deshalb hochpreisiger, was sich wiederum im Preis niederschlägt. Zwar versuchen die Hersteller aktuell die Preisentwicklung noch abzufedern, aber im Endeffekt
wird damit gerechnet, dass während der Saison die Preise für Fahrräder und E‑Bikes steigen können.
Boom-Thema E‑Bike
Beim E‑Bike ergibt sich noch eine Sondersituation: Die Zulieferer der Antriebskomponenten müssen aktuell einen komplizierten Spagat hinlegen. Auf der einen Seite stehen sie bei ihren Bestellungen
für elektronische Teile wie Chips und Prozessoren am Weltmarkt in direkter Konkurrenz zur Automobil- und Elektronikbranche, die ebenfalls eine hohe Nachfrage nach Elektroteilen hat. Das wiederum
erschwert die Versorgung und bringt Probleme in der Lieferkette. Auf der anderen Seite kürzen die Fahrradhersteller ihre bereits getätigten Bestellungen, da die Versorgungen mit den restlichen
Komponenten knapp ist. „Es ist für uns deshalb schwer, eine Prognose abzugeben“, sagt Dr. Thomas Leicht von Brose. Das Unternehmen fertigt seine Antriebe zwar in Berlin, ist aber gerade im
Elektroniksektor auf Zulieferer aus Asien angewiesen. Die hohe Nachfrage nach E‑Bikes, die wachsende Nachfrage nach Elektronikkomponenten am Weltmarkt und die steigenden Transportkosten aus Asien
sind für Leicht deshalb Indizien dafür, dass die Preise in diesem Jahr steigen werden. Ein erster E‑Bike-Hersteller hat beispielsweise schon mitgeteilt, die Preise um 100 Euro pro Modell erhöhen
zu müssen.
Ausblick
Wer also sein Wunschrad haben möchte, sollte sich frühzeitig damit beschäftigen oder auch längere Wartezeiten in Kauf nehmen. Der Bestand im Handel ist aktuell niedrig, Ware kann schnell
vergriffen sein. „Die Verbraucher:innen sollten sich frühzeitig mit dem Thema beschäftigen und sehr bald entscheiden“, rät Schömburg. „Eile ist geboten. Die Lage ist angespannt, obwohl wir ein
Rekordhoch bei den Auslieferungen in diesem Januar hatten“, sagt auch Andreas Krajewski, Marketingmanager beim US-Hersteller Cannondale. Und wenn das Wunschmodell nicht verfügbar sei, gebe es
immer noch Alternativen: „Es gibt Segmente, wo die Nachfrage aktuell nicht so hoch ist“, so Krajewski. Alexander Kraft gibt mit Augenzwickern den Tipp: „Wenn man schnell ein neues Rad will,
lieber ohne Motor.“ Dass Kunden wütend sind über eine ausbleibende Lieferung, sei verständlich. Man dürfe die Wut aber nicht an den Händler:innen auslassen. Sie tun meist ihr Bestes, können aber
am wenigstens auf die weltweiten Lieferketten einwirken.
Bildquellen:
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