REKORDANTRITT BEI OFFENEN STRASSEN

Der legendäre Ötztaler Radmarathon darf in seinem Jubiläumsjahr 2020 nicht stattfinden. In Maloja Pushbiker Helmut Trettwer keimt die Idee, dennoch anzutreten – und bei normalem Straßenbetrieb den Streckenrekord von 6:47 h zu brechen. Eine Hommage an den Radsport, an das Leiden und die Leidenschaft.

Im Jahr 2020 sollte der Ötztaler Radmarathon sein 40-jähriges Jubiläum feiern. Doch Corona macht auch dem prestigeträchtigsten Amateurrennen einen Strich durch die Rechnung. Die vier Pässe werden in diesem Jahr keine 4000 Radsportler sehen. Keiner wird die 238 km und 5.500 Höhenmeter in Angriff nehmen. Wieso eigentlich nicht? dachte sich Maloja Pushbiker Helmut „Helli“ Trettwer. Und wieso eigentlich dabei nicht gleich versuchen, den Rekord zu knacken, dachte sich sein Team Manager Christian Grasmann. Ein Rekordantritt unter Einhaltung der Straßenverkehrsordnung? Absolut verrückt „Absolut einen Versuch wert“, schmunzelt Helli.

Eine Hommage an die Qual und den Genuss
Es sollte eine lockere Runde werden. Eine Hommage an eines der schönsten Radrennen der Alpen, das im Corona-Jahr nicht stattfinden kann. Wieso den Ötztaler Radmarathon nicht einfach für sich fahren? Entspannt an einem schönen Tag und mit minimal drei Kaffee-Stopps? So die Ursprungsidee von Helmut Trettwer.
 
Der 37-jährige Oberbayer ist lustvoller Radsportler auf Top-Niveau. Der dienstälteste Maloja Pushbiker. So hätte er eigentlich erahnen müssen, dass sein entspanntes Vorhaben in Gesprächen mit seinem Team bald andere Ausmaße annehmen würde.  
„Plötzlich überlegten wir, dass es spannend sein könnte, die Runde möglichst schnell zu fahren und zu sehen, ob man bei normalem Straßenverkehr, unter 7 Stunden bleiben könnte.“ Im letzten Jahr brach der Vorarlberger Mathias Nothegger einen 17-jährigen Streckenrekord mit einer Zeit von 6:47 h. Mit – so kann man annehmen – akribischer Vorbereitung, perfekt abgestimmtem Training und Rennsituation. Bei Helli sollte nichts von dem gegeben sein – aber dennoch…
 
„Der Ötztaler ist eine wunderschöne Runde und wir wollten den Leuten da draußen zeigen, dass es bei allem Anspruch und aller Qual vor allem um den Genuss geht. Den Genuss der gewaltigen Landschaft und den Genuss des Radfahrens“, meint Helli. „Im Amateursport gibt es eine Verbissenheit, die es nicht braucht. Ich glaube, dass du schneller fahren kannst, wenn du dich nicht so stresst, weil du vom Kopf her freier bist. Und weil du mit offenen Augen durch die Welt gehst und fährst.“

Filmriss in Innsbruck
So steht er mit vier jungen Teamkollegen und Begleitfahrzeug (samt Filmer, Fotografen und Espressomaschine) am 16. August um 5.30 Uhr in Sölden am stockfinsteren ‚Start‘ und ist voller Optimismus.
 
„Der Auftakt war ein Traum“, erzählt Helli. „Kein Mensch unterwegs und dann fahren wir das Kühtai im Sonnenaufgang hoch.“ Es ist der erste von den vier Pässen und mit 18%-Rampe der steilste. „Aber das Licht war so grandios, es war einfach nur schön.“ Die Stimmung ist bestens, das Team zieht, die Straßen sind frei – das soll sich allerdings bald ändern.
 
In Innsbruck kommt es, wie man es von der Stadt eben kennt: Die Radfahrer sind schneller als die Autos. „Wir hatten die grünste Welle, die man sich erträumen kann – und das Auto mitsamt Filmteam die roteste.“ Erst 35 Kilometer später können sie wieder aufschließen. Der erste Filmriss. Dank starkem Verkehr werden noch ein paar weitere folgen.

Gegensturm am Brenner
Dann geht es zum Brenner hinauf. Die Straße ist breit, man hat keine Chance, sich zu verstecken. Rückenwind wäre hier perfekt. Der mag aber heute nicht. Stattdessen stemmen sich die Maloja Pushbikers gegen einen heftigen Gegenwind. „Das war brutal“, sagt Helli und schüttelt den Kopf.
„Bergab rollst du normalerweise ohne großen Antritt bei 50 km/h dahin – und wir fahren am Anschlag und kommen noch annähernd auf 50 km/h. Da war auch klar, dass die 7 Stunden-Marke wackeln könnte. Ohne Team geht so etwas gar nicht. Die Jungs haben sich unglaublich aufgerieben.“
 
Am Jaufenpass zieht es den jungen Fahrern den Stecker. Sie haben im Gegensturm einen Großteil ihrer Körner gelassen. Helli fährt alleine weiter. Wobei allein ist relativ… Am Jaufenpass ist die Hölle los. Hunderte von Motorrädern, Campern, Autos. „Ich habe bergab im Auto geschwitzt, weil’s so eng und so stressig war“, sagt Christian Grasmann. Die Crew ist irgendwo hinten verschollen. Von Laufen lassen kann auch bei Helli keine Rede sein. Der Verkehr kostet ihn gute 10 Minuten.

Eine rote Ampel
Die Kraft schwindet, der Geist wackelt – und das Timmelsjoch baut sich vor Helli auf. „29 Kilometer und es geht einfach nur hoch. Ich war da wirklich jenseits von allem“, sagt er. Sechs Kilometer vor der Passhöhe passiert dann einmal mehr das, was einen Rekordversuch ohne Straßensperrung so schwierig macht: Eine rote Ampel vor einer Baustelle. Was eigentlich wegen des Zeitverlusts ein großes Ärgernis ist, fühlt sich für Helli in diesem Moment an wie ein kleines Geschenk vom Himmel.
Eine unfreiwillige Pause – durchatmen und noch einmal Kraft sammeln für den letzten Teil des Anstiegs.

1.5 Kilometer vor der Timmelsjoch-Passhöhe wartet ein Tunnel – und an dessen Ende leuchtet ein Lichtlein. „Das war nochmal ein bisserl eine Motivation. Ich hab mir nur gedacht, „Jetzt ist eh wurscht “ Es war ein typischer Rennradmoment. Du quälst dich, du fluchst und zugleich genießt du jeden Tritt, jeden Blick hinaus in die Berge, ins Tal.“
 
Nach 7 Stunden 8 Minuten rollt Helli in Sölden ein. Bei den Bedingungen, dem Wind, dem Straßenverkehr ist es eine unfassbare Zeit. Auch wenn es nicht geklappt hat, unter 7 Stunden zu bleiben, ist für den Maloja Pushbiker die Mission erfüllt. „Es ist einfach eine solch unglaubliche Runde“, sagt Helli „und ich würde sie morgen sofort wieder fahren. Ich war echt kaputt, aber das Wunder ist ja, dass es trotzdem Spaß macht.“

Die Leidenschaft spüren
„Der Anreiz war, einfach mal loszufahren, sich nicht so viel Gedanken zu machen und vor allem diese
Verbissenheit auszulassen. Die braucht es in unserem Sport nicht, egal ob du Profi oder ob du Hobbyfahrer bist“, resümiert der Oberbayer. Das ist der Grundpfeiler seines Teams, der Maloja Pushbikers: „Du bist für dich Sportler und nicht für andere. Für dich solltest du ans Limit gehen, um dich zu spüren und über dich hinauszuwachsen. Wenn der Ehrgeiz dich blockiert, der Spaß und die Leidenschaft weg sind, dann ist das eine sportliche Themaverfehlung. Niemals sollte man die Freude verlieren und auch nicht das respektvolle Verhalten anderen gegenüber. Man grüßt, man packt seine Gel-Verpackung ein, man hält sich an die Regeln – und hat Spaß. Auch beim Leiden.“
 
Die Aktion am 16. August war ein unbefangener Antritt. Eine spontane Idee, entstanden aus Liebe zum Sport heraus. Und das in einer sensationellen Kulisse. „Der Ötztaler erdet dich“, meint Helli. „Du kannst das wirklich erfühlen. Und du kannst für dich entscheiden, wie du es wahrnimmst und genießt.“ Der Rekord ist nicht gefallen. Aber das Vorhaben bleibt im Kopf für August 2021.

Text: Maloja Pushbikers

Bilder: © MPB Ötztaler by Urs Golling