Mobilitätsgipfel im Kanzleramt — Verbände kritisieren: Veraltetes Mobilitätsverständnis gefährdet Klimaziele

Der von Bundeskanzler Olaf Scholz einberufene „Mobilitätsgipfel“ ist aus Sicht mehrerer Fahrrad- und Verkehrsverbände ein Beleg dafür, dass die Verkehrswende noch nicht im Kanzleramt angekommen ist. Dass es bei dem Treffen zwar laut Ankündigung um die Transformation der Mobilitätswirtschaft gehen soll, aber fast ausschließlich Vertreterinnen und Vertreter der Automobilbranche eingeladen sind, kritisieren die Allianz pro Schiene, der Allgemeine Deutsche Fahrradclub (ADFC), der Zweirad-Industrie-Verband (ZIV) und Zukunft Fahrrad. Dies steht aus Sicht der Verbände für ein völlig veraltetes Mobilitätsverständnis. Sie fordern von Bundeskanzler Olaf Scholz, die Verkehrswende als Ganzes anzugehen und zur Chefsache zu machen.

Mobilitätsgipfel im Kanzleramt ©Bild von Wolfgang Claussen auf Pixabay
Mobilitätsgipfel im Kanzleramt ©Bild von Wolfgang Claussen auf Pixabay

Der Geschäftsführer der Allianz pro Schiene, Dirk Flege, sagte am Montag: „Was früher einmal Autogipfel genannt wurde, hat jetzt ein neues Label bekommen – die Inhalte sind aber die alten. Das Kanzleramt betreibt hier Etikettenschwindel und beweist, dass es die Transformation der Mobilitätswirtschaft nicht im Großen und Ganzen denkt, sondern Mobilität mit E-Auto gleichsetzt. Die Verkehrswende ist aber mehr als eine Antriebswende beim Auto. Der große Fehler der selbst ernannten Aufbruch-Regierung ist es, dass sie verkehrspolitisch genauso weitermacht wie ihre Vorgänger-Regierungen: Jedes Verkehrsmittel wird isoliert betrachtet, es wird nicht das große Ganze in den Blick genommen. Das ist ein Beleg für eine völlig falsch verstandene Verkehrswende.“

 

Zu dem Gipfel unter dem Titel „1. Spitzengespräch der Strategieplattform Transformation der Automobil- und Mobilitätswirtschaft“ sind vor allem Vertreterinnen und Vertreter von Autoherstellern und Zulieferern eingeladen.

 

Die Bundesvorsitzende des ADFC, Rebecca Peters, sagt: „Die Mär von der Auto-Abhängigkeit zieht nicht mehr. Die Menschen sind längst bereit, für kürzere Strecken das Auto stehenzulassen und das Rad zu nehmen. Das Problem ist nur: es gibt nicht genügend Radwege in Deutschland. Dabei kann der Ausbau der Radwegenetze ganz schnell gehen, wenn die rechtlichen Rahmenbedingungen stimmen. Der Bund muss endlich das Straßenverkehrsrecht so reformieren, dass Kommunen schnell Radwege bauen können. Der Bundeskanzler muss das anschieben, denn Minister Wissing will eher den Autobahnausbau als den Radwegausbau beschleunigen.“

 

Burkhard Stork, Geschäftsführer des Zweirad-Industrie-Verbands (ZIV): „E-Autos und sinkende Autonutzung werden zu weniger Arbeitsplätzen in der Automobilindustrie führen. Studien zeigen aber schon lange, dass es in der modernen Mobilität künftig mehr Arbeitsplätze als bisher geben wird. Ein Baustein ist die Fahrradwirtschaft. Allein die Läden und Werkstätten melden aktuell einen Bedarf von 15.000 Mitarbeitenden, hinzu kommen Herstellung von Fahrrädern und die massiv wachsenden Dienstleitungsbereiche. Aber wenn der Kanzler nur mit den Autokonzernen redet, werden diese Möglichkeiten nicht vorkommen!“

 

Wasilis von Rauch, Geschäftsführer Zukunft Fahrrad: „Der Verkehrssektor steht wegen seiner gerissenen CO₂-Einsparziele unter Druck. Drängender kann Handlungsbedarf nicht sein. Fahrradförderung wirkt schnell und ist kosteneffizient. Es ist Pflichtprogramm, jetzt alles aus dem Fahrrad herauszuholen. Klimaschutz ohne Fahrrad und E-Bike ist wie Schach ohne Dame. Mehr als die Hälfte aller Alltagswege lassen sich mit dem Rad machen, das Einsparpotenzial ist enorm. Wir können uns die einseitige fiskalische, wirtschafts- und verkehrspolitische Fokussierung auf das Auto nicht mehr leisten. Ohne uns gibt es keine Verkehrswende.“ 

 

Die vier Verbände forderten Bundeskanzler Olaf Scholz dazu auf, angesichts der dramatisch verfehlten Klimaziele im Verkehrssektor die Verkehrswende zur Chefsache zu machen.


Transkript von ZIV-Geschäftsführer Burkhard Storck aus der Pressekonferenz

„Die Unternehmen der Fahrradindustrie, also Hersteller von Fahrrädern, E-Bikes, Komponenten und Zubehör, liefern etwa 4 Millionen Fahrzeuge pro Jahr, die Hälfte davon sind E-Bikes. Im Bestand gibt es etwa 80 Millionen Fahrzeuge, 10 Prozent sind E-Bikes. Die Fahrradindustrie ist der Vorreiter in der Elektrifizierung, sie hat ihre Transformation aus eigener Kraft und marktgetrieben geschafft. Ein Mobilitätsgipfel, bei dem die Automobilwirtschaft unter sich ist? Das macht auch industriepolitisch keinen Sinn. Wer die notwendige Transformation und langfristige Industriepolitik im Bereich Mobilität besprechen will, braucht die Alternativen mit am Tisch!

Die Antriebsumstellung auf Elektromotoren bei Kraftfahrzeugen wird Arbeitsplätze in der Automobilproduktion überflüssig machen. Auch die sinkende Zahl der benötigten Fahrzeuge bei mehr automatisierten und gesharten Fahrzeugen wird zu weniger Kfz-Produktion und damit zu weniger benötigten Arbeitskräften führen. Die Zahl der Kfz-Werkstätten und der dort benötigten Mitarbeitenden wird sich in den kommenden Jahren auf etwa ein Drittel verringern. Das alles ist seit Jahren bekannt, die Automobilwirtschaft hat die notwendige Transformation bislang verweigert.

Gleichzeitig zeigen viele Studien seit Jahren, dass nachhaltige Mobilitätswirtschaft mit stärkerer Rolle von Fuß, Fahrrad und Schiene (Umweltverbund) mehr Arbeitskräfte benötigen wird als in der Automobilwirtschaft. Da gibt es nicht den einen Arbeitgeber oder Bereich, der alle Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen aus dem Automobilbereich braucht, das sind viele einzelne Bausteine, aus denen sich der Ersatz zusammensetzen wird.

Schlaglichter: Die Deutsche Bahn will in diesem Jahr 25.000 neue Mitarbeitende einstellen. Die deutschen Fahrradfachhändler und -werkstätten melden 15.000 offene Stellen. Jedes meiner Mitgliedsunternehmen, das sind vor allem Hersteller von Fahrrädern und deren Teilen in Deutschland, meldet offene Stellen – von der Produktionshilfe bis zu den Ingenieuren. Bahnindustrie, Verkehrsunternehmen, Dienstleister – sie alle melden steigenden Personalbedarf.

Die Transformation der Stellen, Ausgleich der unterschiedlichen Wertschöpfungen, die Weiterbildung der betroffenen Menschen – nichts davon kann die Automobilwirtschaft allein. Aber wenn der Kanzler nur mit den Autokonzernen redet, werden diese Möglichkeiten nicht vorkommen! Beim nächsten Mal deswegen, Herr Bundeskanzler: Die Ganze Mobilitätswirtschaft und Industrie zusammenholen!“


Die Allianz pro Schiene ist eine gemeinnützige Interessenorganisation zur Förderung und Verbesserung des Schienenverkehrs. Der Zusammenschluss aus Zivilgesellschaft und Bahnbranche vereint mehr als 200 Unternehmen und Verbände mit insgesamt mehr als 2,5 Millionen Einzelmitgliedern. In Deutschlands unkonventionellstem Verkehrsbündnis sind Umweltverbände und Verkehrsunternehmen organisiert, Gewerkschaften und Finanzdienstleister, Hochschulen und Fahrzeughersteller sowie Verbraucherschutzorganisationen. Die Allianz pro Schiene wurde im Jahr 2000 gegründet und hat ihren Sitz in Berlin. Mehr Informationen unter www.allianz-pro-schiene.de

 

Der Allgemeine Deutsche Fahrrad-Club e.V. (ADFC) ist mit über 220.000 Mitgliedern die größte Interessenvertretung der Radfahrerinnen und Radfahrer in Deutschland und weltweit. Er berät in allen Fragen rund ums Fahrrad: Recht, Technik und Tourismus. Politisch engagiert sich der ADFC auf regionaler, nationaler und internationaler Ebene für die konsequente Förderung des Radverkehrs. Mehr Informationen auf www.adfc.de.

 

Der Zweirad-Industrie-Verband e.V. (ZIV) ist die nationale Interessenvertretung der deutschen und internationalen Fahrradindustrie. 90 Prozent der 2021 in Deutschland produzierten Fahrräder und E-Bikes stammen von Mitgliedsunternehmen des ZIV. Dazu gehören Hersteller und Importeure von Fahrrädern, E-Bikes, Fahrradkomponenten und Zubehör. Als Branchenverband vertritt der ZIV die Interessen von rund 100 Mitgliedsunternehmen gegenüber den Gesetzgebern in der EU und in Deutschland, der Regierung, Behörden, Medien, Institutionen und Organisationen. Mehr Informationen unter www.ziv-zweirad.de

 

 

Zukunft Fahrrad ist ein Zusammenschluss dynamischer und innovativer Unternehmen aller Bereiche der Fahrradwirtschaft: Dienstleister, Hersteller, Start-ups der Digitalisierung, Händler und Zulieferer. Der Schwerpunkt liegt im Bereich der Dienstleistungen. Als neue und etablierte Unternehmen in einem stark wachsenden und sich stetig verändernden Markt haben alle ein gemeinsames Ziel: die nachhaltige Mobilitätswende. Mehr Informationen unter www.zukunft-fahrrad.org