Für den leidenschaftlichen Fahrrad-Abenteurer Gunnar Fehlau sind Schneeflocken und Kälte kein Grund, auf eine Ausfahrt zu verzichten. Im Gegenteil: Der Gründer des pressedienst-fahrrads wartet nur drauf, sich sein Fatbike schnappen zu können und zum Beispiel in den Harz zu fahren. Ein Reportage über ein Wochenend-Abenteuer vor der Haustür – oder: Wintersport mal anders.
Samstagmorgen, 11 Uhr, eine erste Aufwärmpause: Unsere Nasen stecken tief in einem dünnwandigen Whiskyglas. Die „Tastings“ der kleinen Destillerie in der „Hammerschmiede“ in Zorge sind berühmt. Auf dem Hof stehen rund drei Dutzend Autos aus halb Europa. Und drei Fatbikes. Zwei Felt-Boliden („DD30“, 1.599 Euro und „DD70“, 1.299 Euro) sowie der Nicolai-Breitreifenrenner „Argon Fat“ (Individualaufbau, Rahmenpreis: 1.350 Euro).
Die Schar der internationalen Whisky-Fans schaut ein wenig verdutzt: Unsere dicken Radschuhe und die winterfeste Radkleidung wollen so gar nicht in die nobel-rustikale Einrichtung der Hammerschmiede passen. Zu unserem Abenteuer gehört es allerdings auch, ein paar lokale Sehenswürdigkeiten zu besuchen.
Der Plan war so einfach wie faszinierend: Ein Fatbike-Wochenende im Harz. Treffen samstagmorgens am Bahnhof in Göttingen, dann mit der Regionalbahn nach Walkenried in den Harz, pedalierend über verschneite Pisten, außerhalb des Nationalparks einen Biwak-Platz finden und am Sonntag über den Brocken zum nächstgelegenen Bahnhof. Wir haben unsere Fatbikes mit den extrabreiten 4,8-Zoll-Reifen „Jumbo Jim“ von Schwalbe (102,90 Euro pro Reifen) ausgestattet, in den wasserdichten Rucksäcken sind Minizelt, Winterschlafsack und eine kleine Kochausrüstung ebenso verstaut wie Ersatzkleidung und das übliche Bike-Marathon-Setup für Mensch und Material. Alles in allem sind wir mit etwa 14 Kilogramm Ausrüstung leichter unterwegs als gedacht. „Und wenn es allzu garstig wird, gibt es genug Pensionen hier“, meint Tourenpartner Arne. Kay, der Dritte im Bunde ist kälteerprobter Alpinist, tempofester Amateurrennfahrer und kauffreudiger Ausrüstungs-Nerd. Dementsprechend fällt sein Urteil in Sachen Quartier klar aus: „Festes Dach über dem Kopf? Nicht mit mir!“
Im Schnee erst einmal Druck ablassen
Von Frieren kann aber erst einmal nicht die Rede sein, der Glen Els verbreitet ordentlich Wärme in der Blutbahn. Wir wagen uns wieder vor die Tür der Hammerschmiede: minus fünf Grad. Trotzdem schwingen wir uns gut gelaunt auf unsere Räder und folgen einem verschneiten Wanderweg entlang des Sprakelbachs. In Ortsnähe sehen wir noch vereinzelt Mountainbike-Spuren. Das Tal steigt an und mit ihm auch die Schneehöhe. Hier spielen die Fatbikes ihre Vorteile aus: Die Auflagefläche der Breitreifen ist phänomenal. Starteten wir mit etwa 0,8 bar in den Reifen, haben wir den Druck nun auf kaum mehr 0,5 bar abgesenkt. Druck ist bekanntlich Kraft (hier Gewicht) pro Fläche. Der Effekt ist eindrucksvoll: Anstatt durch die gefrorene Schneedecke zu brechen, fahren wir auf ihr. Mit herkömmlichen Reifenbreiten wäre das unmöglich. Anders die Fatbikes, deren Reifen solche Wintertouren überhaupt erst möglich machen. Wir tauschen die Räder unterwegs durch: Jeder möchte die „Bluto“-Federgabel von Rock Shox am Nicolai einmal ausprobieren. Auf festen Pisten mit Kanten, Steinen und Co. bringt die Gabel reichlich zusätzliche Traktion und Kontrolle. Im tiefen Schnee verliert sich der Effekt zwar, da ich mein Fatbike aber ganzjährig fahre, bin ich von der Federung mächtig angefixt.
Das Wild bleibt verschont
Kaum passieren wir die Waldgaststätte „Rinderstall“, sind wir auch schon im 1994 eingerichteten Nationalpark Harz, der „sagenumwobenen Bergwildnis“, wie die nicht zu übersehenden Schilder stolz verkünden. Die breiten, aber mitunter extrem steilen Wanderwege in dieser Region sind übrigens kein Zufall. Meist sind es alte Versorgungswege des Oberharzer Wasserregals. Dieses jahrhundertealte Kanalsystem für den Betrieb der Wasserräder in den Bergwerken ist Unesco-Weltkulturerbe. Alte Schleusen und neue Informationstafeln säumen den Weg. Unser Ziel fürs Abendessen ist das „Rehberger Grabenhaus“. Dort gibt es im Winter Wildfütterungen, bei denen man die Tiere aus nächster Nähe beobachten kann. Der Clou: Die Besucher reisen frühzeitig an, dann wird die Zufahrt gesperrt, damit das Wild Ruhe hat. Die Gäste nehmen an den Fenstern der Gaststätte Platz und tafeln fürstlich, während das Wild in Ruhe direkt vorm Haus gefüttert wird. Die Menüfolge klingt köstlich und die Höhenmeter des Tages tun ihr Übriges – wir sitzen schon fast! Doch leider passt das Wildessen überhaupt nicht zu unserem Zeitplan: Wenn wir im Hellen einen Lagerplatz finden wollen, dann müssen wir binnen der nächsten Viertelstunde weiter.
Biwakieren will gelernt sein
Im gleichen Maße, wie der zivilisatorische Komfort abnimmt, steigt der Abenteuerpegel. Wir verlassen das urige Grabenhaus und schlagen uns Richtung Südwesten. Es geht kräftig hoch und runter, der Schnee ist auf den Sonnenseiten der Hänge matschig und auf den Schattenseiten bisweilen sogar eisig. Kein leichtes Terrain. Aber eines steht für uns drei fest: kein Biwak im Nationalpark! Auf einer kleinen Lichtung am Rande des Nationalparks bei St. Andreasberg werden wir schließlich fündig: ausreichend ebene Fläche für die Minizelte, ein wenig Holz unter den großen Tannen ist noch schneefrei. Nun muss es schnell gehen. Anders als beim Sommerbiwak, bei dem man froh ist, den aufgeheizten Leib nach einem Radsporttag erst einmal ein wenig auskühlen lassen zu können, muss man beim Winterzelten die Körperwärme konservieren.
Ich mache den Oberkörper komplett frei, trockne mich mit schnellen Bewegungen ein wenig und ziehe mir ein frisches Merino-Unterhemd an. Darüber die Radkleidung des Tages und als Abschlussschicht eine Primaloft-Jacke. Daune ist zwar leichter, reagiert aber sensibler auf Feuchtigkeit und verliert an Wärmeleistung – und dadurch an Beliebtheit bei biwakierenden Bikern. Jetzt noch eine Fleece-Mütze, ein Buff und Primaloft-Shorts übergezogen und ich bin bereit, das Lager einzurichten. Arne, Kay und ich sind allesamt outdoor-erfahren. So stehen die Zelte in wenigen Minuten. Die Arbeitsteilung funktioniert perfekt: Arne besorgt die dicken Hölzer und versieht sie unter Zuhilfenahme des Kleinbeils mit einer Vielzahl von Furchen, damit das Feuer mehr Angriffsfläche hat. Ich kümmere mich um mittlere Äste und dünne Stöcke, Kay richtet die Feuerstelle ein. Für einen guten Start sorgt ein spiritusgetränkter Weinkorken. Auch das Feuer ist binnen einer Tagesschaulänge prächtig am Lodern. Wir schalten auf Lagermodus um: Statt Riegel, Gel und Iso-Drink gibt es Würstchen vom Grill und Rotkraut. Anschließend einen kleinen Glen Els. Die Nacht ist kurz und kalt, aber tiefenentspannt. Als wir gegen sieben Uhr aufwachen, sind wir bereit für den Brocken, das sportliche Highlight der Tour.
Ein Brocken wartet noch
Der Brocken ist mit 1.141 Metern der höchste Gipfel im Harz. Wegen seiner exponierten Lage gilt sein Klima als alpin. Das Jahrestemperaturmittel beträgt magere 3,5 °C. An gut 300 Tagen im Jahr liegt der Brocken im Nebel oder im Regen. Je näher wir dem Berg kommen, desto mehr übernehmen die Langläufer das Regiment. Die breiten Wege sind meist doppelt gespurt und auch auf den schmalen Wegen sind die Skispuren nicht zu übersehen. Wir stehen unter strenger Selbstbeobachtung und wissen genau, dass man uns eine zerstörte Loipe anhand der Spuren sofort zuweisen könnte. Wir spüren Verantwortung nicht nur für uns. Denn ähnlich wie im Sommer einige schwarze Schafe und Demagogen die gemeinsame Nutzung der Wege durch Biker und Wanderer vergiften, könnte unser Fehlverhalten hier Stimmungsmache gegen winterliche Fatbiker nach sich ziehen. Kay witzelt, dass diese Verantwortung mehr bremst als das Gewicht seines Rucksacks („MountainX 31“ von Ortlieb, 219,95 Euro).
Der eigentliche Anstieg auf den Brocken beginnt für uns hinter dem „Dreieckigen Pfahl“, einem historischen Grenzstein. Ich kurble im leichtesten Gang. Der Jumbo Jim gräbt sich in den festgetretenen Schnee, während ich versuche, das Vorderrad am Boden zu halten. Es ist verdammt steil. Nach der am stärksten geneigten Passage biegt der Weg links nach Norden hin ab und verläuft parallel zur berühmten Harzer Schmalspurbahn, die Touristen auf den Gipfel fährt. Wir folgen ihr für etwa zwei Kilometer, bevor wir auf die für Autos gesperrte, aber leidlich geräumte Brockenstraße abbiegen und ihr bis auf den Gipfel folgen. Wir passieren die Baumgrenze und der Wind nimmt spürbar zu. Wanderer und Biker lehnen sich gemeinsam gegen die Böen. Beim Gipfelfoto müssen wir die Fatbikes festhalten, damit sie nicht wegfliegen.
Der Wind frischt auf
Bergauf war der Wind nervig und hinderlich. Bei der Abfahrt wird er fast gefährlich: Wir sausen bergab, der Fahrtwind und die Böen zerren an uns, drohen uns im einen Moment an den Hang zu pressen und im nächsten ins Tal zu werfen. Saukalt ist es obendrein, der Windchill brutal! Gerade noch schwitzten wir beim Anstieg, jetzt droht unsere Kleidung zu vereisen.
Und so entfaltet sich vor uns das wahrlich revolutionäre Potenzial des Fatbikes: Der Breitreifenbolide bringt unsere Grundprinzipien ins Wanken. Haben wir uns bisher darüber geärgert, dass Abfahrten im Vergleich zum langen Anstieg immer viel zu schnell vorbei sind, freuen wir uns jetzt, dass wir nicht noch länger bergab frieren, zumal die in dieser Gegend zahlreich vorhandenen technischen Singletracks aufgrund der Schneemengen selbst mit unseren Fatbikes nicht mehr befahrbar sind. Über den Goetheweg gelangen wir nach Torfhaus, holen dort das Gipfelbier nach und rollen anschließend zum Bahnhof nach Bad Harzburg.
Quelle: pressedienst-fahrrad