20 Jahre ist es her, dass die Taiwanerin Carol Urkauf-Chen die österreichische Firma KTM Fahrrad vor dem Konkurs rettete und wieder zu einem florierenden Unternehmen machte. Im Jubiläums-Interview rekapituliert sie zwei arbeitsintensive Dekaden, in denen sie und ihre Mitstreiter Heroisches leisteten.
Als Sie 1996 beschlossen, KTM Fahrrad kurz vor dem Konkurs zu kaufen und zu retten: Woher nahmen Sie das Selbstvertrauen für diesen Schritt?
Ich hatte keine große Wahl. Ich musste schnell handeln, um die Firma zu retten. Aber die Mitarbeiter und Führungskräfte von KTM haben mich gebeten, einzusteigen und zu helfen. So hat alles
begonnen.
Erinnern Sie sich noch an den 7. Januar 1996? Wie erlebten Sie den Tag, an dem Sie die Leitung der Firma übernahmen?
Das Dilemma begann ja sogar bereits vor Weihnachten. Ich musste praktisch betteln, um genügend Geld für die Mitarbeiter zusammen zu bekommen. Sonst hätte es kein Weihnachtsgeld gegeben.
Wie reagierten die Personen in Ihrem persönlichen Umfeld auf Ihren Entschluss?
Sehr skeptisch. Mein ganzer Bekanntenkreis und meine Familie haben mir abgeraten. Alles war unbekannt, und ich war alleine. Zudem musste ich mein Deutsch noch verbessern. Wir haben uns praktisch
in einer Fahrradsprache unterhalten, diese ist international.
Wie gelang es Ihnen, 1996 das Unternehmen vor der Insolvenz zu bewahren?
Nur durch meine persönlichen Kontakte und meinen Namen in der Branche. Ich musste alle wichtigen Lieferanten ansprechen und überzeugen, damit Sie uns weiter beliefern. Danach habe ich schnell
gravierende Maßnahmen ergriffen und umgesetzt. Die alte Stahlfertigung musste schnellstmöglich (1998) geschlossen werden, und wir haben ganz schnell auf Alu-Rahmen aus Taiwan umgestellt, um
wettbewerbsfähig zu werden.
Welche Erfahrungen brachten Sie schon aus Taiwan mit?
Ich hatte in Taiwan bereits 18 Jahre lang in der Fahrradindustrie gearbeitet. Ich wusste dadurch, welche Produkte der Markt benötigte. Aber wichtig war es, so schnell wie möglich eine effiziente
Produktion zu bewerkstelligen. Ich musste sehr viel lernen, wir mussten alle sehr viel arbeiten.
Waren Sie sich sicher, dass Ihre Rettungsaktion zum Erfolg führen würde?
Hundertprozentige Sicherheit gibt es nicht, aber natürlich habe ich an den Erfolg geglaubt, sonst hätte ich nicht begonnen. Von der Strategie war die Rettungsaktion nicht auf einen schnellen
Erfolg aus, sondern auf langfristiges, sicheres, stetiges Wachstum. Ich kann immer nur kleine Schritte machen, schon von Natur aus. Aber wenn diese Schritte in die richtige Richtung gehen, dann
stellt sich der Erfolg ein. Ich habe eine Regel: Jeder Erfolg gilt immer nur für den Moment.
Gab es Momente, in denen Sie Ihre Entscheidung bereuten?
Ich habe mich damals manches Mal gefragt: „Warum das alles?“ Aber ehrlich, die Firma ist mir sehr schnell ans Herz gewachsen, und ich bereue diese Entscheidung nicht.
Wer waren Ihre wichtigsten Mitstreiter?
Alle Mitarbeiter von KTM in Mattighofen haben von Anfang an mitgeholfen. Und dann hatte ich natürlich die Unterstützung von meiner Familie und von meinem Bruder Michael. Er hat über Jahre hinweg
dafür gesorgt, dass ich mich sehr stark in Österreich um die Firma KTM Fahrrad kümmern und auf sie konzentrieren konnte. Dafür bin ich ihm sehr dankbar. Leider ist er letztes Jahr im März
verstorben. Er war für mich Bruder, Geschäftspartner, Freund.
Nehmen Sie sich nach wie vor Zeit, z.B. E-Bikes selbst auszuprobieren?
Ja, natürlich! Ich habe vor sechs Jahren bei KTM die E-Bikes der nächsten Generation nach vielen Probefahrten in meinem Urlaub in Holland selbst mitentwickelt. Und seitdem bin ich auch
elektrifiziert. Die E-Bikes erfordern ein hohes Maß an Innovation, Konzentration und Investition.
1998 gab KTM die hauseigene Fertigung von Fahrradrahmen auf, aber die Firma nahm 2001 eine moderne Acryl-Pulveranlage in Betrieb. Wie wichtig ist es, solch spürbare Qualität im eigenen
Haus zu produzieren?
Die Rahmenfertigung mussten wir aus wirtschaftlichen Gründen aufgeben, das war ein wichtiger Schritt. Mit der eigenen, umweltfreundlichen Lackieranlage haben wir eine sehr hohe Flexibilität und
tolle Qualität. Seitdem erhalten wir nur Lob und Komplimente über die tolle Oberflächen-Behandlung unserer Räder.
Die eigene Lackier-Anlage ist auch ein wichtiger Bestandteil, dass wir mittlerweile ministeriell autorisiert die Aussage „KTM Bikes Made in Austria“ verwenden dürfen. Die Qualität des
Endproduktes täglich vor Augen zu haben und gegebenenfalls schnell eingreifen zu können, ist ein Bestandteil der Marke KTM.
Zu dieser Zeit wurde ja auch die A-Box-Montage in Mattighofen eingeführt: Zweier-Teams montieren hochwertige Räder. Wie wirkte sich das auf die Arbeitsmoral, wie auf die Qualität
aus?
Die Team-Montage, haben wir für unsere Räder sehr schnell eingesetzt, danach auch die A-Box-Montage für die hochwertigen Räder. Mittlerweile fertigen wir auch alle E-Bikes in der Team-Montage.
Sie ist die Grundlage für die hohe Vormontage-Qualität. Diese Qualität ist eine Visitenkarte von KTM, das vermitteln uns viele Händler, und wir sehen es auch an den Bestnoten, die wir bei
offiziellen Händlerratings bezüglich der Montagequalität seit Jahren erhalten. Die Arbeits-Moral der Mitarbeiter ist entsprechend hoch, sie wirken an einem Komplettrad mit. Wir haben in unserer
Produktion Mitarbeiter, die schon seit 30 Jahren bei uns sind. Und welche, die schon in der dritten Generation bei uns arbeiten. Das ist ein schönes Zeichen von Loyalität, Familie und
Verantwortung.
Mit dem Neubau im Jahr 2007 entstand nicht nur ein neues Firmengebäude, sondern auch eine Art Gestalt gewordene Philosophie. Was alles vermittelt dieses hochmoderne Gebäude den
Besuchern?
Ich habe meine Ideen gemeinsam mit dem Architekten verwirklicht. Vom Grundriss, dem Schwung der Straße, bis zur gläsernen Büro-Architektur und der hochmodernen Haustechnik. Das Gebäude soll den
Mitarbeitern Transparenz und ein modernes, design-orientiertes Arbeitsumfeld vermitteln. Ich muss sagen, dass das Firmengebäude bei unseren Mitarbeitern automatisch zu einer neuen Wahrnehmung von
KTM geführt hat. Alles wurde nun mehr design-orientiert. Die Mitarbeiter haben sich schnell als ein Teil eines dynamischen, neuen KTM empfunden, das Wert auf Design, Dynamik und Erfolg
legt.
Gibt es denn bei KTM auch Erwägungen, eventuell mal ins Radsportsponsoring auf oberer Ebene einzusteigen?
Momentan sind wir mit dem französischen Pro Continental Team Delko Marseille KTM und seit langem mit dem Continental Team Tirol zusammen. Wir arbeiten sehr gerne mit diesen beiden Teams und
freuen uns über die sportlichen Erfolge, aber auch über das wichtige konstruktive Feedback zu unseren Produkten.
„Der internationale Beobachter verbindet mit dem Namen KTM die Vorstellung von Erfolg, Ausdauer und Verlässlichkeit“, heißt es im Nachsatz des 50-Jahre-Buches von Franz Leingartner.
Würden Sie das auch auf sich beziehen?
Ja, natürlich. Die Aussage von Franz Leingartner ist treffend für mich und den Markenkern von KTM.
Was sind die größten Wünsche, die Sie als Unternehmensleiterin bei KTM Fahrrad in Zukunft noch erfüllen möchten?
Ich strebe eine weitere Internationalisierung, ja Globalisierung an und treibe diese gerade auf verschiedene Arten voran. Dazu gehört auch, dass wir unseren Standort in Österreich mit höchster
Produktivität und Effizienz ständig weiter entwickeln. Nur dann können wir im weltweiten Wettbewerb mit „Made in Austria“ bestehen. Darüber hinaus nimmt das Thema Elektrofahrrad eine immer
wichtigere Position ein. Das E-Bike birgt viele Chancen und Möglichkeiten. KTM ist ein ausgesprochener eBike-Pionier und hat unter anderem das erste Elektro-Mountainbike gebaut. Auch zukünftig
werden wir viel in Innovationen investieren, um vorne dabei zu sein.