Wie erlebt eigentlich ein Händler seine Kunden?
Greg Delgado beschreibt seinen Alltag als Fahrradhändler. Alle Personen und Handlungen sind frei erfunden. Zumindest behauptet das der Autor.
Jochen ist 36 Jahre alt. Er ist Single. Er fährt Mountainbike. Er arbeitet Schicht und weiß Bescheid: Politik, Wirtschaft, Soziales, Kinderzimmer tapezieren, Antilopen erlegen, Fahrräder im
Allgemeinen: Jochen knows best. Zudem ist Jochen, gemessen an der Verweildauer in meinem Geschäft, mein allerbester Premiumkunde.
Mindestens drei Mal pro Woche kommt Jochen vor oder nach seiner Schicht „mal kurz vorbei“ und teilt sich selbst mir oder meinen Kunden mit. Spätestens wenn sich der Smalltalk mit den Kunden zu einer Kaufberatung entwickelt, schreite ich ein – nicht zuletzt deshalb, weil er ab und an dazu neigt, über das Ziel hinauszuschießen:
Dann bestückt er Räder neu, findet Helme anderer Hersteller „eh viel besser“ oder erklärt die Möglichkeiten des Internet. Und dennoch: mich selbst von ihm zu trennen - eventuell sogar ganz grundsätzlich und für immer –, fällt mir dennoch schwer.
Mein weiches Herz lässt mich ihn lange ertragen. Grenzenlos belastbar ist es aber nicht! Das weiß ich, das weiß Jochen.
Geld regiert die Welt
Mit dem Kauf eines Mountainbikes für 4999 Euro hatte Jochen die kurze Hochphase unserer Beziehung ehemals eingeläutet. Aus den genannten Gründen begleitet seither ein stetiges Abfahrtsgefühl mein
emotionales Verhältnis zu Jochen. Ich bin mir sicher, dass Jochen meine Exit-Strategie kennt, denn er greift immer wieder zu einem gnadenlosen Mittel, um seine Existenz in meinem Geschäft zu
sichern: Geld!
Kurz bevor es kracht, zückt Jochen seine Börse und kauft ein.
Über den Kohlehydratdrink in der 2-Liter-Dose für 29,90 Euro hatte sich Jochen zwei Wochen sorglosen Aufenthalt ershoppt, die Winterhandschuhe zu 69,90 hatten ihm einen satten Monat allmählich
weichender Entspannung verschafft, und der Laufradsatz zu 2499 Euro hatte ihm über ein gutes halbes Jahr lang die totale Freiheit gegeben.
Plusquamperfekt: Alles das ist abgeschlossen, Vergangenheit.
Zurück auf Null
Nachdem Einkäufe zuletzt ausgeblieben waren, suchte ich nämlich mal wieder verzweifelt nach den richtigen Worten, um die Trennung so wenig schmerzhaft wie möglich zu gestalten, als Jochen durch
die Ladentür kam, das Bein bis zur Hüfte in Gips, den Krankenschein praktisch in der Hand!
Der Schrecken fuhr mir durch die Glieder, ein einziger Gedanke schoss mir in den Kopf:
Verletzung hin, eine Trennung musste her. Sofort!
Ich nahm meinen ganzen Mut zusammen, schritt auf Jochen zu und hörte ihn sagen:
„Ein Auto hat mich angefahren, das Rad ist voll im Sack, Versicherung zahlt alles, ich brauch ein neues fettes Bike.“
Ich ging den letzten Schritt auf Jochen zu. Dann umarmten wir uns innig.